Portrait
Madeleine Ryser
Madeleine Ryser (Foto zVg)

Man muss schauen, um zu sehen

Madeleine Ryser (66) ist seit 30 Jahren Mitglied des Berner Heimatschutzes und Malerin. Die langjährige Leiterin des Regionalmuseums Chüechlihus kämpft engagiert für das Dorfleben und -bild von Langnau. Es geht ihr nicht um das Erhalten um des Erhaltens willen: «Es geht darum, einen Mehrwert zu schaffen, sei es für das Ortsbild oder für die Bewohner:innen». Diese Haltung macht Erfolge möglich …

Ihr Hauptcharakterzug?

Vielseitigkeit.

Gab es ein Erlebnis oder eine Person, die Sie entscheidend beeinflusst hat? 

Die starken, interessierten und belesenen Frauen in meiner Familie, ganz besonders meine Mutter.

Was hat Sie geprägt, dass Sie die geworden sind, die sie heute sind? 

Mein Studium der Dialektologie und Volkskunde bei Prof. Peter Glatthard. Volkskunde war damals wenig wissenschaftstheoretisch, sondern ein Spielfeld unterschiedlicher Themen, die oft eher in Gummistiefeln als mit Büchern angegangen wurden. Dort wurde mein Interesse an Bauernhäusern und Holzbau geweckt, was mich noch zu einigen Semestern Architekturgeschichte ermuntert hat. Damals hatte ich auch ein Minipensum bei H.C. Affolter an der damaligen Stelle für Bauern- und Dorfkultur. Diese Zeit hat mir die Augen für Stilepochen geöffnet.

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen und weshalb? 

Solistisch singen zu können. Weil eine Singstimme Menschen berühren kann.

Was macht sie glücklich?

Vieles; es ist grundsätzlich ein Glück, hier leben zu können.

Was macht sie wütend?

Dass alte Männer Millionen von Menschen ihren Willen aufzwingen können. Einige davon sind allerdings nicht alt oder nicht männlich.


Heimat

Wir haben sie gebeten einen Lieblingsgegenstand auszuwählen, der für Sie für «Heimat» stehen könnte …  

Es gibt keinen Lieblingsgegenstand, Heimat lässt sich für mich nicht an einem Objekt festmachen.

Brauchen Sie Heimat? 

Sicher.

Falls ja, was bezeichnen Sie als Heimat?

Ein Gefühl, in das ich hineingeboren wurde und das bis heute anhält. Die Geborgenheit in einer Gemeinschaft. 

Was lieben Sie an Ihrer Heimat besonders?

Die Vertrautheit.

Haben Sie eine zweite oder dritte Heimat? Kann man Heimat austauschen? 

Nein. Austauschen wohl nicht, aber dazugewinnen.

Gibt es Orte, wo Sie das Entsetzen packt bei der Vorstellung, dass es für Sie die Heimat wäre oder sein müsste?

Überall, wo Willkür herrscht, also leider vielerorts.


Baukultur und Kulturgüter 

Warum sind Sie Mitglied des Berner Heimatschutzes geworden? 

Es war eine natürliche Folge meiner Interessen.

Wir sprechen oft von Kulturgütern und Baukultur. Was verstehen Sie darunter? 

Was Bauernhäuser betrifft, die Qualität und das offenbar natürliche Gefühl für Proportion und Ästhetik sowie die offensichtliche Affinität zum Baustoff Holz. Vielen Emmentalern scheint das immer noch angeboren zu sein. Zu meiner Zeit am Museum rotteten sich die jungen Männer des 10. Schuljahres immer im Raum «Holzbau» zusammen. 

Was gefällt Ihnen daran für die Kulturgüter und die Baukultur im Emmental einzustehen? 

Es scheint mir eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Sie haben 19 Jahre lang das Regionalmuseum Chüechlihus in Langnau geführt. Ist ein Gespür für gewachsene Orte, ihre Gebäude und die wichtigen Kulturgüter einer Region erlernbar oder trägt man das in sich? 

Ein Gespür scheint mir erlernbar zu sein. In meiner Funktion als Museumsleiterin habe ich die Dorfrundgänge, die immer noch angeboten werden, eingeführt. Ich versuchte, den Menschen zu vermitteln, dass man schauen muss, um zu sehen. Nicht ins Schaufenster oder ins Handy schauen, sondern nach oben, um einen geseilten Bug oder eine ungewöhnliche Dachründi zu sehen. Vielleicht entdeckt man eine geschnitzte Tür oder freut sich über einen ungewöhnlich geformten Türgriff. So legt man im Kopf einen Katalog von Details an, die sich zu einem «Kulturgutverständnis» verfestigen können. 

Was ist ihr Lieblingsbeispiel, um aufzuzeigen, dass sich das Engagement für gute Baukultur, lebenswerte Städte und Dörfer in einer ökologisch vielfältigen Umwelt lohnt?

Zwei Lieblingsbeispiele: In den frühen Achtzigern gelang es uns dank des notfallmässig gegründeten «Verein zur Erhaltung des Dorfbildes von Langnau», dass ein Migros-Neubau hinter und nicht an Stelle von zwei gründerzeitlichen Villen zu stehen kam. Das war umso bedeutender, weil es sich um ein geschlossenes Villenquartier handelt. Das natürliche Habitat von Villen, der umgebende Park, ist natürlich verschwunden, aber die Häuser sind erhalten geblieben und vielleicht stehen sie in hundert Jahren wieder in einem Garten?
In vielen (Problem-) Fällen gibt es eine bessere Lösung, man muss nur wollen.
Ein zweites Lieblingsbeispiel ist die Weiterführung des Gasthofs Bären als Gaststätte. Engagierte Mitstreiter:innen und die Gründung einer Genossenschaft führten vor zehn Jahren zur Wiedereröffnung des sanft renovierten Hauses. Restaurants sind ein wichtiger Teil unserer Kultur; das zeigt sich besonders, wenn Dörfer die ihren verlieren. Auch hier ging es ums Wollen und das Engagement hält bis heute an.

Gibt es Vorurteile, gar Fake News über den «Berner Heimatschutz», die sie öfters ärgern? 

Der Klassiker: Heimatschutz oder Denkmalpflege sind Bauverhinderer.

Was ist dagegen zu tun? 

Auf Augenhöhe miteinander reden.


Zukunft

Sollen wir noch neu Bauen und wenn ja, wie? 

Sicher; umnutzen und bauen statt abreissen. Was weg ist, bleibt weg. Für das Wie sind die Fachleute zuständig, aber es hilft, den Bestand und die gewachsene Struktur vor Ort zu kennen, bevor man ein Projekt plant. 

Wie können wir erreichen, dass heute die erhaltenswerten Gebäude von Morgen entstehen? 

Den richtigen Architekten / die richtige Architektin für das geplante Projekt finden.

Der renommierte Berner Architekt Rolf Mühlethaler sorgt sich über die zunehmende Regelungsdichte. Teilen Sie diese Sorge? 

Ja, und das nicht nur im Bausektor.

Ein wirklich wichtiger Wunsch für die Zukunft?

In gewachsenen Orten und Quartieren rücksichtsvoll und kenntnisreich bauen.

Und übrigens geht oft vergessen …

... dass es nicht um das Erhalten um des Erhaltens willen geht, sondern um einen Mehrwert zu schaffen, sei es für das Ortsbild oder für die Bewohner:innen.


Interview: Beatrice Born