Das Tal lag noch im Schatten, als Silvia Kappeler, Vizepräsidentin der Regionalgruppe Interlaken Oberhasli, die zahlreich Erschienenen im Gschwandtenmad in Empfang nahm. Sie erzählte, dass der Übergang der Grossen Scheidegg von Grindelwald nach Meiringen der Vieh- und Milchwirtschaft der Lütschinentäler und des Reichenbachtals den Anschluss an die sogenannte Sprinz-Route, die von Luzern nach Domodossola führte, ermöglichte. Viele Jahrhunderte lang exportierte die Alpbevölkerung ihren Käse so bis nach Italien und auf dem Heimweg brachten die Säumer wiederum Güter zurück.
Auch heute wird im Reichenbachtal Käse hergestellt. René Neiger von der Alp Grindel öffnete die Türen der Käsespeicher und gewährte Einblick in die Käserei der Alphütte im Gschwandtenmad. Die Wege für Menschen, Vieh und die Milchprodukte zu und von den drei Stafeln der Alp Grindel werden heute noch genutzt. Nach wie vor ist die Alpwirtschaft ein Erfolgsmodell der Landwirtschaft und bietet als lebendige Tradition ein Auskommen. Und so erstaunt es auch nicht, dass die Alpgenossenschaft in den letzten Jahren einen neuen Käsespeicher baute und die Alphütte renovierte.
Dies führte über zum nächsten Thema: Kaspar Winterberger, Schindelfachmann des Berner Heimatschutzes, berichtete vom kürzlich durchgeführten Kurs «vom Stamm zur Schindel»: Die Teilnehmenden halfen mit bei der Vorbereitung der Schindeln und dem Eindecken der Alphütte im Gschwandtenmad. «Viele Kubikmeter Fichtenholz sind dafür gespalten und als Schindeln verlegt worden. Wobei im Vorfeld umstritten war, ob die Alphütte wiederum ein Schindeldach erhalten würde», so Kaspar Winterberger, «denn das bestehende Dach musste bereits nach etwas mehr als 25 Jahren ersetzt werden.» Schindeldächer haben an günstigen Standorten eine Lebenserwartung von bis zu 40 Jahren.
Die Gruppe verliess das einfache Leben auf der Gschwandtenmad und wanderte nun bei strahlendem Sonnenschein entlang des alten Säumerwegs zum historischen Hotel Rosenlaui. «Hier geniessen die Gäste des im alten Stil erhaltenen Kurhauses eine heute seltene Weltabgewandtheit», erklärte die Hotelière Christine Kehrli. Wobei sie auf die Gepflogenheit hinwies, dass im Einvernehmen mit den Gästen die wunderschönen Räume aus der Belle Époque nicht fotografiert, sondern mit dem Herzen aufgenommen werden sollten.
Christine Kehrli, Autorin des Buches «Tourismus und Hotelträume an der Grossen Oberlandtour», schlug in ihrem Vortrag einen grossen Bogen von gestern bis heute. Denn, wie aus der Sedimentforschung des Brienzersees bekannt ist, gehen die ersten Zeugnisse alemannischer Alpwirtschaft über 1000 Jahre zurück. Die Hänge mussten damals zuerst für Weiden der Viehwirtschaft gerodet werden. Von da an spielte das Wegnetz eine zentrale «vernetzende» Rolle. Über die Grosse Scheidegg hinweg heirateten die jungen Leute – keine Konfessionsgrenze trennte sie wie etwa beim Brünigpass.
Der Kanton Bern förderte schon früh die Verkehrswege, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bereits im Jahre 1600 wurde der Weg ins Tal erstmals richtig ausgebaut. Jedoch erst 1907 entstand die Kutschenstrasse zum Hotel Rosenlaui. Über 100 Jahre lang legten die Gäste den Weg zu Fuss, auf dem Rücken eines Maultiers oder in Sänften zum Kurhaus zurück. «Bekannt geworden ist das Berner Oberland durch naturbegeisterte Reisende wie Jakob Samuel Wyttenbach, Autor des ersten Reiseführers von 1777 mit dem eigenartig anmutenden Titel ‚Kurze Anleitung für diejenigen, welche eine Reise durch einen Theil der merkwürdigsten Alpengegenden des Lauterbrunnenthals, Grindelwald, und über Meyringen auf Bern zurück, machen wollen‘», erzählte Christine Kehrli, «oder 1779 durch Johann Wolfgang von Goethe.» Die mehrfach geplante Grosse Scheideggbahn war nie zur Ausführung gekommen, unter anderem wegen der eigens für das Verfassen einer Einsprache gegen das Projekt gegründeten Berner Sektion des Heimatschutzes. «Die Zeit ist in gewisser Weise still gestanden im Rosenlaui und es fasziniert heute gerade deshalb,» so die Hotelière.
Als Abschluss durften die Teilnehmenden vor Ort ein feines Mittagessen einnehmen. Schon bald erklangen die bekannten Töne der Postautos, das die Gruppe über die kurvenreiche Strasse an den Bahnhof Meiringen brachte.
Edith Biedermann
für die Regionalgruppe Interlaken Oberhasli des Berner Heimatschutzes